Home • Pressestimmen • Die Welt/10.3.2005

Chefdenker der Nation

Grass & Walser
von Eckhard Fuhr

Günter Grass, Harald Schmidt, Martin Walser - was fällt an dieser Reihe auf? Klar: Harald Schmidt gehört eigentlich nicht hinein. Er ist kein Literat und diesseits der siebzig. Und es ist fraglich, ob er heute noch in diese Reihe und auf diesen Platz käme, nach einem Jahr Fernsehpause und eher schleppendem Neubeginn bei den Öffentlich-Rechtlichen. Als Max A. Höfer seine Untersuchung über Deutschlands Meinungsführer, Denker und Visionäre (gerade bei Eichborn erschienen) durchführte, streng empirisch und unter exzessiver Benutzung der Suchmaschine Google, stand Schmidt wohl noch voll im TV-Saft. Grass und Walser aber würden das Ranking der 200 wichtigsten Intellektuellen auch anführen, wenn morgen jegliches Fernsehen eingestellt würde.
Nachdem wir nun den empirischen Befund so zurecht interpretiert haben, wie wir ihn brauchen, kommen wir zur entscheidenden Frage: Was ist mit Deutschland los, daß Greise, die auf die achtzig zugehen, die Chefriege der Dichter und Denker anführen? Die Antwort ist einfach: Es gab sie schon, bevor das Fernsehen zum Massenmedium wurde, und bevor die elektronischen Medien sich die literarische wie die politische Öffentlichkeit einverleibten. Das gibt den Alten eine Aura von Authentizität. Man nimmt ihnen ab, daß sie auch in heutigen Debatten sozusagen "Urtexte" sprechen, also etwas hervorbringen, was die auf Reproduktion getrimmten Medien sich nicht zutrauen. Grass und Walser sind Originale. Deswegen hält man sie von vorneherein für originell.
Ganz falsch ist das ja nicht, wenn man sich anschaut, was nach ihnen kommt. Die Achtundsechziger und schon gar nicht die Anti-Achtundsechziger der Generation Golf reichen in ihrem Einfluß auf das geistige Leben in Deutschland an diejenigen heran, die das Kriegsende als junge Soldaten oder Flakhelfer überlebten. Für sie war 1945 ein Glücksfall, der die Chance bot, sich neu zu erfinden. Nie war die Zukunft offener. Die Grass und die Walser haben das genutzt.

Erschienen in „Die Welt“, 10.3.2005




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