Das Fundament der
deutschen Krankheit
Lohnhöhe, Steuern, Abgaben und Bürokratie: In den
Wirtschaftsteilen der Zeitungen wird regelmäßig über
"harte" Standortfaktoren geschrieben, die uns das
Leben schwer machen. Doch liegt das Fundament der "german
disease", der "deutschen Krankheit", womöglich
woanders (mit) begründet: Während die Amerikaner und
Briten mit "positivem Denken" Probleme angehen, zuversichtlich
nach vorne blicken, blickt die deutsche Gesellschaft am liebsten
zurück: Vergangenheitsbewältigung und Bewahrung erzielten
Wohl(fahrts)standes . das sind die Hauptthemen, die uns tagein,
tagaus beschäftigen.
Kein Wunder: Der öffentliche Diskurs wird ganz maßgeblich,
ja beinahe ausschließlich von "Rückblickern"
und intellektuellen Kritikastern geprägt: voran Günter
Grass, Wim Wenders oder Hans Magnus Enzensberger. Unter den
ersten 100 "Meisterdenkern" Deutschlands sind 23 Schriftsteller,
18 Publizisten (zusammen 41%), 24 Theater- und Filmemacher (zusammen
65%) und ganze 4 Ökonomen, darunter "Tausendsassa"
Roland Berger, ein Unternehmer auf Platz 7. "Sie sind es,
deren Stellungsnahmen in Leitmedien wie Spiegel, Welt oder ARD-
Tagesthemen auftauchen, wenn Ereignisse wie das Attentat vom
11. September, die Globalisierung oder die postmoderne Musik
bewertet werden sollen".
Dieses Ergebnis bringt eine publizistisch aufbereitete Untersuchung
unter mehr als 2.000 einflussreichen Persönlichkeiten Deutschlands
zutage.
Max A. Höfer, Wirtschaftswissenschaftler, Politologe hat
anhand der Zitationshäufigkeit in Zeitungen, Zeitschriften,
im Internet und nach eigener Kenntnis der jeweiligen "Vernetzung
hinter den Kulissen" den individuellen Einfluss dieser
Männer und Frauen auf die öffentlichen Debatten in
Deutschland untersucht. In die Liste aufgenommen wurde, "wer
eine wichtige öffentliche Debatte durch eigene Erkenntnisse
oder Stellungnahmen ausgelöst oder wesentlich mitbestimmt
hat".
Naturwissenschaftler haben wenig zu sagen
Deutschlands erster Naturwissenschaftler, der Vorsitzende der
deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, Ernst Ludwig Winnacker,
schafft es gerade mal auf Platz 100. Und: Ganze 7 Frauen gehören
zu den 100 einflussreichsten Debattenführern in Deutschland.
Zudem: Während die Werbewirtschaft noch immer dem Jugendkult
huldigt, sind es die "weisen (?) Alten", die den öffentlichen
Diskurs leiten. "Fossilien wie Walter Jens und Claus Peymann
sind immer noch stark in den Medien präsent." Die
Jungen pflegen lieber die "morschen Denkmäler, statt
sie zu stürzen". Kaum Ökonomen, kaum Naturforscher,
kaum Frauen (und auch da eine Christa Wolf als erste auf Platz
10, vor Elfriede Jelinek auf 15, Alice Schwarzer auf Platz 19),
wenige Junge, nur 20 Ausländer.
Ein erschütterndes Bild. Und es widerspricht völlig
der Behauptung von FAZ Herausgeber Frank Schirmacher, "fast
80% der Bewusstseinsindustrie (lägen) in weiblicher Hand".
Nein, so Höfer, der "Pascha" beherrscht weiterhin
den Diskurs.
Auch eine Amerikanisierung Deutschlands kann der Autor beim
besten Willen nicht feststellen: "Was aus Amerika kommt,
durchläuft erst mal den Filter der deutschen Kulturindustrie
und wird eingedeutscht." Mag man über die Wissenschaftlichkeit
des Kriterienrasters (in deutscher Manier) streiten können.
Aussagekräftig ist das Ergebnis im Großen und Ganzen.
Wenn auch einzelne Platzierungen, wie die des (zugegeben intelligenten)
Fernsehunterhalters Harald Schmidt auf Platz 2 oder des Bänkelsängers
Wolf Biermann (Platz 11) irritieren oder zumindest sehr erstaunen.
Rausgerechnet wurden unsere Politiker, die ja ein besonderes
Verhältnis zur Presse pflegen und schon qua Amt bei jeder
öffentlichen Debatte mitmischen. Zu den Denkern in der
Politikerriege zählt der Autor Peter Glotz, Heiner Geißler,
Daniel CohnBendit, politische Größen der zweiten
und dritten Reihe.
Was auffällt: Selbst bei Themen, die hohe Fachkompetenz
erfordern, werden nicht die Fach-, sondern die Medienprofis
befragt. Beispiel: Kurth Wüthrich. Der Nobelpreisträger
entschlüsselte den Aufbau von Prion-Proteinen, welche die
Creutzfeld-Jacob-Krankheit auslösen. Im Ranking taucht
er auf verlorenem Posten auf Platz 1.630 auf. Heißt: Man
hat ihn zu seinem ureigensten Thema kaum konsultiert. Dies,
und hier ergänzen wir den Autor . hat aber gewiss auch
etwas mit der Unfähigkeit (und dem Unwillen) deutscher
Wissenschaftler zu tun, sich gegenüber einer breiten Öffentlichkeit
verständlich zu artikulieren.
Fazit: Die öffentlichen Debatten, die Stimmung in der Gesellschaft,
bestimmen geisteswissenschaftlich geschulte Persönlichkeiten,
die meist miesepetern, statt zuversichtlich nach vorne zu blicken
und Anstöße zur Überwindung der (geistigen)
Krise der Gesellschaft zu geben. Sie sind es, die, wie jetzt
ein Schweizer bemerkte, dafür sorgen, dass "ein Deutscher,
der behauptet mit seinem Leben glücklich zu sein und nicht
auf groteske Weise um seine Rechte, seine Zeit und sein Geld
betrogen zu werden, eine der fundamentalsten Spielregeln der
Bundesrepublik" verletzt (gefunden im Wochenbericht der
Bank Julius Bär). "Diese Geste des Leidens ist eine
Distanzierung von der kollektiven Täterschaft der Elterngeneration".
Eine Attitüde, die von unseren Meinungsmachern ausgiebig
gepflegt wird.
Aus: Fuchsbriefe 14. März 2005
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